Mit der Veröffentlichung der ICD-11 rückt die Diskussion über Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen wieder mehr in den Fokus. So wurde beispielsweise der kategoriale Ansatz im Bereich der Persönlichkeitsstörungen aufgeweicht und einige neue Erkrankungen sind hinzugekommen. In diesem Artikel möchte ich auf verschiedenen Fragen und Kritikpunkten im Zusammenhang mit Taxonomien eingehen, alternative Klassifikationssysteme vorstellen und einen Ausblick auf mögliche zukünftige Modelle geben.

Klassifikation, Taxonomie und aktuelle Klassifikationssysteme

Im Lehrbuch der Verhaltenstherapie (Margraf, 2009) wird erläutert, dass der Begriff Klassifikation sowohl die Einteilung in ein nach Klassen gegliedertes System als auch die Zuordnung einer Person oder eines Merkmals zu einer Klasse eines Systems bezeichnen kann. Solche Systeme sollten auf einheitlichen Klassifikationsprinzipien beruhen, was wiederum als Taxonomie bezeichnet wird.

Psychische Erkrankungen können anhand von Symptomen, Syndromen – häufig gemeinsam auftretende Symptomkomplexe – oder Ursachen einer Erkrankung klassifiziert werden. Da über die Ätiologie psychischer Erkrankungen zu wenig bekannt ist (und sich auch die Therapieschulen darüber nicht einig sind), basieren die derzeitigen Diagnosesysteme für psychische Erkrankungen überwiegend auf Symptomen und Syndromen und sind bis auf wenige Ausnahmen rein deskriptiv.

ICD und DSM

Es gibt zwei Klassifikationssysteme für psychische Erkrankungen, die weltweit anerkannt sind und verwendet werden: Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders in Version 5 (DSM-5) der American Psychiatric Association und die International Classifcation of Diseases in Version 11 (ICD-11) der WHO. In Europa und damit auch in Deutschland wird die ICD verwendet, die neben den psychischen auch alle körperlichen Krankheitsbilder klassifiziert. Sowohl das DSM-5 als auch das ICD-11 enthalten klare Kriterien zur Feststellung einer Erkrankung, einschließlich Ein- und Ausschlusskriterien.

Die ICD-11 ist erst vor kurzem in Kraft getreten und es wird noch eine mehrjährige Übergangsphase von der ICD-10 zur ICD-11 geben. Einige neue Erkrankungen wie pathologisches Horten, anhaltende Trauerstörung und Binge-Eating-Störungen sind hinzugekommen, andere Erkrankungen wie z. B. Schlafstörungen wurden geändert bzw. neu eingeteilt. Eine weitere Besonderheit stellt die Aufweichung der kategorialen Diagnostik im Bereich der Persönlichkeitsstörungen dar. Bisherige Persönlichkeitsstörungen wie die paranoide oder die dissoziale Persönlichkeitsstörung sind verschwunden, stattdessen gibt es nur noch die Diagnose Persönlichkeitsstörungen in verschiedenen Schweregraden (mit Ausnahme der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Zusätzlich zu den Schweregraden werden ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale oder -muster beschrieben (z. B. negative Affektivität, Distanziertheit), die zur näheren Beschreibung herangezogen werden können und dimensional verstanden werden.

Bedeutung der Taxonomie für die Behandlung psychischer Erkrankungen

Bevor wir uns die verschiedenen Kritikpunkte bestehender Klassifikationssyteme anschauen, zunächst einmal ein Blick in die Praxis: Wie relevant sind Klassifikationssysteme für uns Psychotherapeut:innen? Und welche Auswirkungen haben sie auf unsere Behandlungen?

Zunächst einmal sind Diagnosen in Deutschland notwendig, um eine Psychotherapie zu begründen und diese von den Krankenkassen erstattet zu bekommen. Auch die Dauer der Therapie hängt von der Erkrankung ab. So wird bei der Diagnose einer isolierten Phobie wahrscheinlich keine Langzeittherapie bewilligt. In der klinischen Praxis ist die Diagnosestellung einer Erkrankung jedoch oft komplex und nicht immer eindeutig. Ich vermute, jede:r Psychotherapeut:in kennt Fälle, in denen zum Beispiel ein deutlicher Leidensdruck und Behandlungswunsch besteht, die Symptome sich aber nicht eindeutig einer Erkrankung zuordnen lassen. In solchen Fällen wird häufig auf die sogenannten „Sonstige“-Kategorien der Klassifikationssysteme zurückgegriffen, wobei sich auch hier Probleme bei Langzeittherapie-Anträgen ergeben können.

Aus der Diagnose leitet sich auch die jeweilige Behandlungsplanung ab. Für jede Erkrankung liegen Leitlinien und Therapiemanuale vor, die regelmäßig überarbeitet und an neue Forschungsergebnisse angepasst werden. Spätestens gegen Ende einer Psychotherapie erfolgt außerdem eine erneute Einschätzung und eine Überprüfung, ob sich die Erkrankung in Remission befindet.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von Diagnosekategorien ist der der Kommunikation. Diagnosen erleichtern die Kommunikation unter Fachleuten, die Forschung zu Diagnosen, aber auch die Kommunikation von Fachperson zu Patient:in usw. Auch Patient:innen können durch Diagnosen die Kommunikation mit anderen anpassen, fühlen sich vielleicht mehr verstanden und können sich mit anderen Betroffenen austauschen, zum Beispiel im Rahmen von Selbsthilfegruppen.

Kritik an bestehenden Klassifikationssystemen

Neben den beschriebenen Implikationen für die Praxis sind Klassifikationssysteme jedoch auch mit Nachteilen und Problemen verbunden. Zunächst einmal erhält ein Großteil der Patient:innen nicht nur eine Diagnose, sondern mehrere (was als Komorbidität bezeichnet wird). Dies wirft nicht nur Fragen der Therapieplanung auf (welche Diagnose wird zuerst behandelt?), sondern kann auch negative und stigmatisierende Auswirkungen auf die Betroffenen haben. Häufig sind es die zugrunde liegenden Faktoren und Problembereiche, die komorbide Erkrankungen begünstigen. Dies zeigt sich auch daran, dass viele Symptome wie z.B. Schlaflosigkeit und Konzentrationsstörungen in vielen Diagnosekategorien vorkommen – eine klare Abgrenzung der verschiedenen Erkrankungen ist daher oft nicht gegeben.

Die Klassifikationssysteme sind jedoch nicht in der Lage, Informationen über zugrundeliegende Problembereiche abzubilden, so dass viele wichtige Informationen verloren gehen bzw. nicht sichtbar sind. Hinzu kommt, dass Patienten mit der gleichen Diagnose völlig unterschiedliche Beschwerden haben können und daher auch eine unterschiedliche Therapieplanung benötigen. Es besteht also eine große Heterogenität innerhalb einer Diagnosekategorie. Auch diese Information geht durch die gleiche Kodierung verloren.

Ein weiteres Problem habe ich bereits erwähnt: die Sonstige-Kategorien. Für Patient:innen, die sich Klarheit erhofft haben, kann die Kommunikation über eine Sonstige Kategorie zu Frustration führen. Auch die Therapiebewilligung und die Therapieplanung können dadurch erschwert werden. Eine Lösung des Problems ist die ständige Erweiterung der Klassifikationssysteme um neue Diagnosen und Diagnosegruppen. Dies wiederum führt dazu, dass die Klassifikationssysteme immer länger und komplexer werden. Dieses Vorgehen wirft auch die Frage auf, ob dadurch Beschwerden, die bisher als klinisch nicht relevant eingestuft wurden, zu stark pathologisiert werden und zu Stigmatisierungen führen können. Diskutiert wird auch die Frage der Festlegung von Schwellenwerten. Ab wann ist jemand „krank“ genug, um eine Behandlung zu erhalten? Und sollten die Kriterien weiter aufgeweicht werden, um mehr Menschen den Zugang zu einer Behandlung zu ermöglichen?

Die Vor- und Nachteile der Aufweichung von Diagnosekriterien

Der erste Impuls zur Frage nach der Aufweichung von Diagnosekriterien bzw. der Hinzunahme neuer Diagnosekategorien ist häufig der, dass vor allem die Vorteile gesehen werden: Noch mehr Menschen könnten erreicht und behandelt werden, ggf. sogar früher als bisher. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich aber auch viele Nachteile, die es zu bedenken gilt. So kann eine Psychotherapie (ebenso wie eine medikamentöse Behandlung) auch Nebenwirkungen haben – ein Bereich, der in der Psychotherapieforschung lange Zeit wenig Beachtung fand und nun verstärkt in den Fokus rückt. Nebenwirkungen können z.B. Schäden durch Behandlungsfehler sein, aber auch vorübergehende Verschlechterungen von Symptomen. So kann sich z.B. bei Abbruch einer Psychotherapie die Annahme verfestigen, dass Psychotherapie generell nicht hilft, wodurch Versorgungsangebote gar nicht mehr in Anspruch genommen werden.

Darüber hinaus kann die Zuschreibung einer psychischen Erkrankung zu Stigmatisierung und Benachteiligung bei Versicherungen und im Beruf führen. Auch sich selbst erfüllende Prophezeiungen und ein geringes Selbstwirksamkeitserleben (z.B. „Ich schaffe das nicht, weil ich psychisch krank bin“) können die Folge sein. Viele psychische Krisen können auch durch die Aktivierung eigener Ressourcen und Problemlösekompetenzen bewältigt werden – eine Erfahrung, die bei einer frühen Diagnosestellung möglicherweise nicht gemacht werden kann. Die erhöhte Sensitivität ginge zudem zu Lasten der Spezifität. Die Gruppe der fälschlich diagnostizierten Personen würde größer.

Auf der anderen Seite wissen wir, dass viele Menschen zu spät Hilfe suchen und sich Symptome im Laufe der Zeit chronifizieren können. Gerade bei schweren psychischen Erkrankungen kann eine frühzeitige Intervention Schaden abwenden und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern. Die Frage ist nur, in welcher Form frühe Hilfen sinnvoll sind. Brauchen wir dafür Diagnosen (aktuell ja, damit Psychotherapeut:innen ihre Leistungen abrechnen können) oder würde das unter den Bereich der Prävention fallen? Und wer ist im Falle der Prävention zuständig? Schließlich ist es die Aufgabe von Psychotherapeut:innen, psychische Erkrankungen zu heilen – und nicht, diese vorzubeugen. Hinzu kommen der Mangel an Psychotherapieplätzen und die langen Wartezeiten – wenn immer mehr Menschen einen Anspruch auf Psychotherapie haben, könnte sich dieses Problem noch verschärfen.

Um den Problemen und Kritikpunkten der Diagnosekategorien zu begegnen, wird eine alternative Klassifikation diskutiert: die dimensionale Erfassung psychischer Erkrankungen. Was steckt dahinter und was sind die Vor- und Nachteile?

Kategoriale vs. dimensionale Erfassung psychischer Erkrankungen

Der kategoriale Ansatz geht davon aus, dass es eine klare Grenze gibt, ab der von einer Erkrankung gesprochen werden kann. In der Theorie gibt es voneinander weitgehend unabhängige Kategorien, deren Kriterien erfüllt oder nicht erfüllt sein können. Im Gegensatz dazu liegt einer dimensionalen Klassifikation die Kontinuitätsannahme zugrunde, die einen fließenden Übergang von gesund zu krank postuliert. In einer dimensionalen Klassifikation können zudem die von den Betroffenen berichteten Beschwerden auf wenige Dimensionen reduziert werden. Damit wird auch der Problematik von Komorbiditäten, Sonstigen-Kategorien, möglicher Stigmatisierung und Informationsverlust von Diagnosekategorien entgegengewirkt.

Im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen werden die Kategorien für psychische Erkrankungen nicht durch bestimmte Marker, sondern durch Konventionen festgelegt (z. B. Festlegung einer Mindestanzahl von Symptomen, Zeitkriterien, Vorliegen eines Leidensdrucks etc.) Die Festlegung solcher Konventionen ist alles andere als einfach, und es gibt (wie wir gerade gesehen haben) viele Diskussionen darüber, wie streng sie sein sollten. Darüber hinaus haben wir bereits festgestellt, dass durch Kategorien viele Informationen verloren gehen und man der individuellen Symptomatik nicht gerecht wird. Durch eine dimensionale Erfassung kann ein mehrdimensionaler Raum geschaffen und die Individualität der Betroffenen verdeutlicht werden. Statt der Kategorien „krank / nicht krank“ können Abstufungen und Problembereiche sichtbar gemacht werden. Zudem kann eine dimensionale Erfassung psychischer Gesundheit als weniger stigmatisierend erlebt werden als die Zuordnung zu einer Kategorie.

Wir haben aber auch gesehen, dass Diagnosekategorien verschiedene Vorteile haben, z.B. in der Forschung, bei der Genehmigung durch Krankenkassen oder in der Kommunikation mit Interessengruppen. Auch für die Behandelnden kann es entlastend sein, die unendliche Fülle von persönlichen Informationen und Symptomen in Kategorien zusammenfassen und auf entsprechende Behandlungsmanuale zurückgreifen zu können. Und schließlich erfordert auch die dimensionale Erfassung einen Konsens darüber, ab wann eine Behandlung indiziert ist – was letztendlich auch zu Kategorien führt. Für viele erscheint daher eine Kombination aus einem kategorialen und dimensionalen Ansatz sinnvoll, um die Vorteile beider Ansätze zu verbinden.

Alternative Konzepte zur Klassifikation psychischer Erkrankungen: Brauchen wir ein komplettes Umdenken?

Viele Forscher:innen haben sich der Frage angenommen, wie eine alternative bzw. ergänzende Taxonomie im Bereich psychischer Erkrankungen aussehen könnte. Ich möchte euch zwei alternative Konzepte genauer vorstellen:

Research Domain Criteria (RDoC)

Die Klassifikationen psychischer Erkrankungen im DSM-5 und ICD-11 sind, wie bereits beschrieben, rein deskriptiv und geben bis auf wenige Ausnahmen keine Auskunft über die Entstehung einer psychischen Erkrankung. Um die Erforschung und das Verständnis psychischer Erkrankungen voranzutreiben, wurden die sogenannten Research Domain Criteria (RDoC) vom National Institute of Mental Health ins Leben gerufen. Das Ergebnis ist eine Matrix, die auf 6 Domänen des beobachtbaren Verhaltens und verschiedenen neurobiologischen Parametern basiert. Die sechs Domänen sind (1) Negative Valenzsysteme, (2) Positive Valenzsysteme, (3) Kognitive Systeme, (4) Systeme für soziale Prozesse, (5) Erregung und regulatorische Systeme und (6) Sensomotorische Systeme. Unter negative Valenzsysteme fällt beispielsweise die Reaktion auf aversive Situationen und Kontexte wie Angst oder Verlust.

RDoC strebt eine dimensionale Darstellung von Merkmalen entlang eines Kontinuums an. Anstelle verschiedener diagnostischer Kategorien sollen Symptommuster identifiziert werden, die auf gemeinsamen Risiko- und Krankheitsfaktoren beruhen. Insbesondere durch ein besseres Verständnis der biologischen Grundlagen und der zugrundeliegenden Faktoren könnte sich in Zukunft eine ganz andere Taxonomie und auch eine daraus abgeleitete Therapieplanung ergeben. Auf der Webseite von RDoC wird aber auch klar betont, dass das vorliegende Konzept nicht für die Diagnostik in der Praxis verwendet werden kann und auch nicht die derzeitigen Diagnosesysteme ersetzen soll. RDoC ist ein Forschungsrahmen, der regelmäßig angepasst wird und das Ziel verfolgt, psychische Erkrankungen besser zu verstehen. Es ist jedoch möglich, dass weitere Forschung mit der RDoC-Matrix zur Entwicklung zukünftiger diagnostischer Kategorien beitragen kann.

Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie (HiTOP)

Die Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie (HiTOP) ist ebenfalls aus der Kritik an bestehenden Klassifikationssystemen entstanden. HiTOP ist ein empirisch fundiertes, hierarchisch organisiertes und dimensionales Modell, das psychische Erkrankungen individueller abbilden soll. Wie bestehende Klassifikationssysteme basiert HiTOP auf beobachteten und berichteten Symptomen. Diese werden jedoch auf der Basis empirischer Zusammenhänge zu psychometrischen Konstrukten zusammengefasst, wodurch Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen abgebildet und berücksichtigt werden. Die Darstellung erfolgt auf verschiedenen hierarchischen Ebenen – von einzelnen Symptomen über Syndrome bis hin zu sogenannten (Super-)Spektren. Die derzeit bestehenden 6 Super-Spektren sind: Internalisierendes Spektrum, Denkstörungsspektrum, Enthemmt-externalisierendes Spektrum, Antagonistisch-externalisierendes Spektrum, Somatoformes Spektrum und das Verschlossenheits-Spektrum.

Betrachtet man z.B. das internalisierende Spektrum, so gehören dazu die Subfaktoren Ängste, psychische Belastungen (z.B. Depressionen), sexuelle Probleme und Essprobleme. Das enthemmt-externalisierende Spektrum würde den Subfaktor schädlichen Substanzkonsum und Phänomene wie die Neigung zu Risikoverhalten umfassen. Wie diese abstrakt und komplex klingende Einteilung genau aussieht, kann auf der entsprechenden Website nachgeschaut werden und hier die deutsche Übersetzung finden. Die Autor:innen betonen, dass das Modell nach transparenten und wissenschaftlichen Kriterien kontinuierlich weiterentwickelt wird und damit nicht in Stein gemeißelt ist. In Zukunft ist auch ein umfassendes Messinstrument für die Praxis geplant, mit welchem Behandelnde die HiTOP-Dimensionen ihrer Patient:innen erfassen und damit ein individuelles Profil erstellen können. Um Zeit zu sparen, könnten beispielsweise in einem ersten Schritt die Ausprägungen auf den Spektren erfasst und bei Auffälligkeiten die Subfaktoren näher betrachtet werden. Denkbar sind auch Schwellenwerte für bestimmte Behandlungsindikationen und Behandlungssettings. Insgesamt kann damit die Klassifikation und Diagnostik psychischer Erkrankungen verbessert werden. RDoC und HiTOP teilen dabei ein gemeinsames Verständnis einer transdiagnostischen und dimensionalen Erfassung psychischer Gesundheit in Abgrenzung zu bestehenden Klassifikationssystemen.

Wie sieht die Zukunft der Taxonomien aus?

Es wurden bereits viele Anstrengungen unternommen, um ein besseres Verständnis – und damit auch eine bessere Taxonomie – im Bereich der psychischen Belastungen zu erreichen. Die Diagnostik psychischer Erkrankungen ist nach wie vor sehr fehleranfällig und beruht zu einem großen Teil auf der Selbstauskunft von Betroffenen. Das Ganze könnte sich nun aber durch die fortschreitende Entwicklung im Bereich der künstlichen Intelligenz ändern. So geben erste Studien zur digitalen Phänotypisierung beispielsweise Hinweise darauf, dass psychische Erkrankungen durch die Mensch-Computer-Interaktion (z. B. Scrollverhalten, GPS Daten, Schrittzähler etc.) überwiegend gut vorhergesagt werden können.

Die Frage, ab wann jemand als „gesund“ und ab wann als „krank“ einzustufen ist, und damit verbunden die Frage, wer eine Behandlung erhalten sollte, wird aber wohl immer eine Herausforderung bleiben. Und auch wenn die Früherkennung psychischer Erkrankungen Fortschritte machen wird, bleibt die Frage, ob eine frühe Intervention immer sinnvoll ist. Hier sehe ich persönlich eher die Chance von verschiedenen Formen der Prävention, die auch ohne Diagnosestellung möglich sein sollten.

Eine andere Frage ist, wie man eine Erkrankung definiert, sobald ein Behandlungsbedarf festgestellt wurde. Erfasst man transdiagnostische Problembereiche, orientiert man sich an den Kriterien der ICD oder an ganz neuen Taxonomie-Modellen? In den nächsten Jahren und Jahrzeiten werden wir uns wahrscheinlich weiterhin an der Klassifikation des ICD-11 (bzw. DSM 5) und folgenden Auflagen orientieren. Denkbar ist jedoch, diese Klassifikation mit erweiterten Taxonomie Modellen zu kombinieren, um ein besseres Verständnis für Patient:innen zu erhalten und damit auch eine besser Behandlungsplanung zu ermöglichen.